Ende August 1991.
Kein Internet, die Telephongespräche führen über ein Kabel in der Wand und Informationen musste man sich in einer nach Schimmel riechenden Ecke der ungelüfteten Bibliothek buchstäblich ersitzen. Fast ist mir, als hörte ich das Echo eines Gespräches über ein gewagtes „Luftschwimmer-Stück“ der Gebrüder Montgolfiere. Des Kaspars bunte Sakkos der wilden Privatisation in den Straßen, die aufgrund ihrer Pflege durch das ehemalige Regime noch grau und voller Schlaglöcher waren. Am kalten Fenster des Stadtbusses war neben den Gassen, die sich im Staub zwischen den Handabdrücken das Regenwasser bahnte, mit Papierklebestreifchen, wie sie bei den Produktpreisangaben in den Geschäften üblich sind, ein Blatt Papier im Format A5 hinzugeklebt, vielleicht auch kleiner: Taekwon-Do, koreanische Kampfkunst, Interessenten melden sich bitte dort und dort, klar, da konnte man nicht widerstehen.
Ich wurde als sechsjähriger Schüler, Jahrgang 1983, zu einem Judo-Kurs angemeldet. Ich bin fleißig in den Turnsaal gegangen, auch wenn sich auch hier bald die traditionelle Krankheit im damaligen Unterricht der Kampfkünste zeigte. Ein Neuling muss vor allem Liegestützen und Kniebeugen machen, egal wie. Wenn er sich aufgrund einer zu kurzen Sehne nicht richtig vorbeugen konnte, setzte sich ihm jemand lustig auf den Rücken, bis es nur so krachte. Außerdem war die Konzentration auf den sportlichen, bzw. wettkampfmäßigen Teil dominant. Sie war sogar eine Bedingung für den weiteren Aufstieg in den technischen Stufen. Dennoch war mein Hauptgrund für einen Wechsel der Zeitmangel. Im Jahre 1991 habe ich begonnen, die Mittelschule in Krummau zu besuchen, damals ein vergessenes und heruntergekommenes Städtchen mit einer gewissen kafkaesken Prägung. Und gerade in den Trainingstagen hatten wir den Stundenplan mit den meisten Stunden am Nachmittag.
Heute vielleicht unvorstellbar,
aber bei den ersten Trainings konnte man sich vor lauter Interessenten kaum rühren. 80, 90 Leute füllten an den sonntäglichen Vorabenden die Budweiser Turnhalle bis zum letzten Platz. Sehr vielfältig war auch der Blick auf die Mode: Abgehärtete in roten Turnhosen mit weißem Streifen. Hinter hellblauen Sweatern konnte man die Erfahrungen aus dem Wehrdienst ablesen, Damen und Mädchen kamen in Leggins mit in Richtung Pastell gehenden Farbtönen. Hie und da schien ein Kimono aller möglichen Typen hervor – von schweren Judomänteln, die bis zum Knie reichten, mein Fall, über kurze Karate-Strandhosen bis hin zu den ersten, hausgemachten und etwas ungeschickten und kantig geschnittenen Kepro-Doboks. Der Hunger nach einem Unterricht in der Kampfsportkunst war riesig. Wenn dann jemand nicht zum nächsten Training kam, dann bedeutete das nicht, dass ihm das Trainieren keinen Spaß gemacht hätte, sondern eher, dass er sich in einem Übermaß an Begeisterung und wegen fehlender Erfahrungen eine Verletzung zugezogen hatte, indem er zum Beispiel versuchte, sich, ähnlich wie van Damme, mit gespreizten Beinen zwischen den Stühlen einzuhängen und dabei noch mit den Fäusten gegen die Wand drosch – das habe ich mir nicht ausgedacht! Oder zumindest nicht komplett. Im Laufe der Zeit ist aber natürlich diese Modewelle wieder abgeflaut und die diversen Pflichten und Interessen zerstreuten die ursprüngliche Gruppe der Trainierenden wieder in alle Windrichtungen. In diesen 27 Jahren bin ich auf unglaublich glückliche (aber auch traurige) Schicksale gestoßen, ja sogar auf tragische. Nichts desto Trotz, in der Gruppe dieser Freunde, die sich unter der Budweiser Taekwon-Do ITF-Schule gebildet hatte, treffen wir uns immer noch und gern, und das, obwohl viele gar nicht mehr trainieren oder in anderen, eigenen, Sektionen aktiv sind.
Ich habe es sehr geschätzt, dass Trainer Rosťa Kaňka nicht auf wortgewaltige Ansprachen bestand und auf nicht endenwollende Serien von Liegestützen und Klappmessern, sondern dass er den Anfängern ermöglichte, schrittweise und wirklich auch verstandesgemäß zu den Geheimnissen des Taekwon-Dos vorzudringen. Es wurde einfach trainiert, aber überlegt, ich würde sagen, klug. Die Nachsicht gegenüber den ersten, unvollständigen Bemühungen, die Beine zu heben, um einen Tritt nachzuahmen und eine nicht ermüdende Bereitschaft, dort mit Ratschlägen weiterzuhelfen, wo ein Interesse gegeben ist, haben mich bald begeistert und auch Meister Hwang Ho-jong, den ich zum ersten Mal sah, als Rosťa Kaňka im Mai 1992 vor dem gesamten Tong-il die Prüfung zum 2. Dan ablegte.
Im Jahre 2006 habe ich fast schon im Greisenalter erfolgreich die Hochschule absolviert und suchte mir endlich eine fixe Beschäftigung. Es fand sich eine Möglichkeit und ich zog ins unweite Velešín um, zwischen die Wälder und Wiesen des Vorböhmerwaldgebietes. Mein erstes Interesse galt der Suche nach Milan Prokeš, den ich bis dahin nur vom Sehen gekannt hatte, um mit ihm die Möglichkeit zu besprechen, bei ihm in der Sektion zu trainieren. Er nahm mich mit einer überraschenden Mischung aus Freude, aufrichtigem Enthusiasmus und permanenter Begeisterung auf. Diese begeisterte Begrüßung hatte ihren Grund aber nicht in meiner Einzigartigkeit, sondern in seiner absolut schlichten Natur, die, denke ich, und vermutlich nicht nur in mir, immer noch eine gewisse Bewunderung auslöst. Es kostete mich, das ist wahr, eine gewisse Anstrengung, mich mit dem Velešíner Trainingstempo abzufinden, wo, anders, als beim ehemaligen Tong-Il-Drill und einer klaren Linie, ständige Debatten ihren ganz zentralen Platz haben, womit sich hier auch gleich mehrere vorzügliche Theoretiker des Taekwon-Dos herauskristallisiert haben. Das hat aber die hier sehr freundliche Atmosphäre zu überbrücken geholfen. Sehr rasch hatte man mich hier ausgehorcht und auf verschiedene Weise festgestellt, dass ich auch nur ein Mensch bin.
Unter der Velešíner Schule konnte ich entlang der fiktiven Leiter der Dan-Prüfungen fortschreiten und mich auch an der Leitung der Trainings beteiligen, und mit meinen bescheidenen privaten Möglichkeiten ebenso an der Arbeit des Tschechischen ITF-Taekwon-Do Verbandes. Wenn ich evtl. auf etwas stolz sein könnte, dann darauf, dass ich bei der Ausweitung der Arbeit der Velešíner Taekwon-Do-Sektion über die Grenze hinweg ins oberösterreichische Bad Leonfelden mit dabei war. Bei den gemeinsamen Trainings und Trainingscamps konnte ich mithelfen, ein Stück des gewaltigen Felsens an beiderseitigen Vorurteilen, die immer noch die beiden Hänge der Böhmerwaldhügel belasten, abzuschlagen.
Was sollte ich am Ende noch betonen?
Also, auf zum Training! Augen und Ohren öffnen und mit Interesse neue Sachen erlernen! Und auch wenn Sie wissen, dass Sie ein Star sind, ist es gut, ab und zu daran auch ein wenig zu zweifeln.