Zu den traditionellen Werten
einer jeden Kampfkunstsportart gehören Großmeister und die Legenden über ihre Taten und ihr Leben. So wie Aikido seinen Ueshiba hat, Karate Oyama oder Kung-Fu Woi Feng-hung, so hat auch Taekwon-Do seine Legenden. Diese Geschichten sind die Wurzeln und die Motivation für jeden überzeugten Anhänger und ein Beispiel für den Weg, auf den sich ein Jeder aufmachen soll. Eine von diesen Persönlichkeiten im Taekwon-Do ist für viele von uns auch Großmeister Pak Čong-su (angl. Park Jong Soo).
Mein erstes Treffen mit Großmeister Pak
war mehr oder weniger einem Irrtum geschuldet. Aber im Leben gibt es auch Irrtümer, welche Sie zu keinem Zeitpunkt bedauern. Nach vier Seminaren mit dem Gründer von Taekwon-Do fahre ich zusammen mit Marek Lazor zu einem internationalen Seminar nach Budapest, um dort einen Menschen zu treffen, dessen Name uns bis zu diesem Moment nicht sagte. Obwohl eine neu Art von Seminar angekündigt war, wobei eben dieses den Anfang machen sollte, erwarteten Marek und ich eher doch ein klassisches Technik-Seminar, wie wir sie unter der Leitung von General Čcho bereits absolviert hatten. Wir waren enttäuscht, im Seminar ging es nur um Zweikämpfe. Von den Leuten dort erfuhren wir darüberhinaus, dass der Seminarleiter, Großmeister Pak, erst kurz zuvor in unsere Föderation zurückgekehrt war und wir überzeugten uns selbst, dass seine Interpretation z.B. der Schrittduelle erst aus der Zeit stammte, als sich Taekwon-Do entwickelte. Außerdem sind zwei mehr als vierstündige Trainingsblöcke physisch sehr anstrengend und wir sind während des gesamten Trainings manchmal kaum dazukommen, die Schützer abzulegen.
Bald beginnt aber die anfängliche Enttäuschung sich zu verwandeln
und zwar in ein Verstehen der Zusammenhänge und in ein schrittweises Kennenlernen einer einzigartigen Persönlichkeit, wie Großmeister Pak sie gewiss ist. Das tiefste Erlebnis, das wir aus diesem Seminar mitgenommen haben, wird vom Mythos der Unbezwingbarkeit von Großmeister Pak aus jener Zeit begleitet, als er koreanischer Meister wurde und mit dem ITF-Exhibitions-Team tourte und Aufforderungen zu Wettkämpfen annahm. Manche Quellen sprechen von beinahe 200 Wettkämpfen. Im Verlaufe des Seminars tauchte dann ein Team des ungarischen Fernsehens auf und nahm in der Pause mit Großmeister Pak ein Interview auf. Gleich eine der ersten Fragen, welche fiel, war, ob Herr Pak alle seine Gegner geschlagen habe. Alle hatten wir dieselbe Frage in unseren Köpfen und so hörten wir gespannt und aufmerksam zu. Großmeister Pak antwortete mit einem Lächeln, dass das nicht stimme, denn einmal habe er nicht die Chance zu dieser Gelegenheit gehabt. Alle, die wir vom Seminar etwas enttäuscht waren, bestätigte der Großmeister somit in unseren Gefühlen. Er erzählte jedoch mit seinem typischen ungezwungenen Gesichtsausdruck weiter: „Einmal hatte ich einen Wettkampf mit dem Kickbox-Star Dominique Valera. Nach einigen meiner Kombinatinen, etwa 15 Sekunden nach Beginn des Duells, flog von Valeras Seite das Handtuch in den Ring. Es tat mir sehr leid, dass ich nicht die Möglichkeit hatte, diesen Profi regulär zu besiegen. Herr Valera hat sich nach dem Wettkampf dann bei mir entschuldigt, dass er leider sehr schnell erkannt hatte, nicht fähig zu sein, sich mit mir zu duellieren. Somit hatte ich in diesem Wettkampf nicht die Möglichkeit gehabt, zu gewinnen!"
Obwohl der Großmeister um die 60 war,
zeigte er uns demonstrativ Techniken inklusive mehrfacher Tritte in die Höhe, auch wenn er sich bei diesen Techniken nie die Bemerkung verkneifen konnte, er sei noch zu „jung“ dafür. Bei manchen fortgeschritteneren Methoden bekam der Meister Schwierigkeiten bei der versuchten Demonstration dieser Technik, weil von den hunderten Teilnehmern im Turnsaal niemand dabei gewesen ist, der seine Angriffe sicher hätte abwehren können, trotz vorheriger Belehrung, welche Technik zur Anwendung kommen würde. Dann wiederum war er gezwungen, uns immer und immer wieder seine Techniken zu zeigen, inklusive der Bemerkungen über seine „Jugendlichkeit“, weil unsere Beherrschung schwieriger Kombinationen so miserabel war.
Ich fuhr von diesem Seminar
mit gemischten Gefühlen weg, aber entschlossen, diese Person näher kennenlernen zu wollen und mehr von ihr zu erfahren. Während der folgenden sechs Jahre habe ich Großmeister Pak Čong-su mehrmals getroffen und hörte viel über ihn. Aber nie hatte ich die Möglichkeit, ein ähnliches Seminar zu absolvieren, wie jenes in Budapest. Ich erfuhr, dass in den frühen Zeiten des Taekwon-Do Großmeister Pak der Schüler Nummer ein des Gründers war und ich hörte, dass der Sohn des Gründers eifersüchtig war, weil er von seinem Vater weniger Taekwon-Do vermmittelt bekam, als Pak Čong-su. Ich habe gehört, dass bei großen Vorführungen von Kampfkunstsportarten, bei denen auch Bruce Lee aufgetreten ist, Großmeister Pak mehr Applaus bekam, als sonst jemand. Ich hörte, dass jedesmal, wenn Pak Čong-su gegen einen riesigen Sack trat, mit welchem die anderen ein Problem hatten, ihn auch nur zu bewegen, dass so ein Sack bei ihm beinahe im rechten Winkel zerbrach. Und so weiter,… also auch wenn nur die Hälfte davon wahr sein sollte, müsste Großmeister Pak ein übermenschliches Wesen sein. Übrigens, wenn ich z.B. auf Youtube einige seiner Videos verfolge, dann bin ich nicht überzeugt davon, dass dem nicht so ist.
Eine Geschichte
hinterließ aber in mir einen tiefen Eindruck und bringt immer zumindest ein Lächeln in mein Gesicht. Nachdem Großmeister Pak in unsere Föderation zurückgekehrt war, ersuchte ihn die kanadische Nationalmannschaft um Zusammenarbeit vor allem im Training des Sportkampfes. Der Großmeister reagierte auf dieses Ersuchen positiv und forderte beim nächstbesten Treffen die Sportler des Nationalteams, echte Könner, auf, sie mögen ihm zeigen, was sie gelernt hatten. Nach einer knappen Minute der Duelle, gebot er innezuhalten und rief diese Vertreter des kanadischen Nationalteams zu sich. Er stelte ihnen eine schockierende Frage, ob sie nämlich begriffen hätten, dass ein freier Kampf im Sport auch schnell sein müsse?! Die kanadischen Sportmeister blickten ihn an, als sei er ein Phantom und dabei blieb es auch, als der Großmeister jemanden ersuchte, er möge ihm seine Schützer leihen. Übrigens habe ich dieselbe Szene auch in Budapest erlebt, und auch die anschließenden Schwierigkeiten, sich die Schützer anzulegen, denn im Taekwon-Do wurden Schützer ursprünglich nicht verwendet. Die Show konnte beginnen. Die Pointe dieser Story liegt darin, dass am Ende Großmeister Pak ersucht werden musste, nicht mehr an Trainingscamps des Nationalteams teilzunehmen, weil all die um ein halbes Jahrhundert jüngeren Wettkämpfer gegen den leicht ergrauten Herren, welcher sich nicht einmal ordentlich die Schützer anlegen konnte, wie dessen Opfer aussahen!
Nicht nur die Taten, sondern auch die Persönlichkeit von Großmeister Pak
sind ein nicht wegzudenkendes Beispiel der traditionellen Werte im Bereich der Kampfkunstsportarten. Während manche Studenten der Kampfkunst mit dem Binden eines schwarzen Gürtels rund um ihre Hüften sich über den Plebs der Träger niedrigerer Gürtel erheben, stellt sich Großmeister Pak ruhig im Hotelbuffet an das Ende einer langen Schlange der sich Verpflegenden und wundert sich genauso, dass andere ihn nach vor lassen, wie auch in Situationen, wo ihn zum Beispiel am Flughafen jemand mit Auto und Privatchauffeur abholt.
Während dieser Jahre hat mich der Großmeister am meisten durch zwei Lehren beeinflusst.
Die erste Lehre - „Wollen Sie die schnellsten und stärksten Beine der Welt haben? Trainieren Sie mit Gewichten. Geben Sie sich zum Beispiel Kilo-Gewichte auf die Beine und dann trainieren Sie die Tritte. Ihre Explosivkraft wird sich sehr schnell und so ändern, dass Sie sie nicht mehr erkennen werden. Nach ein paar Jahren eines solchen Trainings werden Sie sich im besten Fall jedoch mehreren Knie-Operationen unterziehen müssen, so wie ich. Wenn ich heute zwischen mehreren Dutzend gewonnenen Wettkämpfen oder gesunden Beinen auswählen könnte, würde ich eindeutig die Gesundheit vorziehen. An jedem Einzelnen selbst liegt der Weg, den sie oder er einschlägt. Ich empfehle Ihnen die Gesundheit, seien Sie nicht dumm."
Der zweiten Lehre kommt vor allem in der heutigen Zeit der Forcierung der Einführung des Vollkörperkontaktes im Taekwon-Do und der ständigen Erweiterung der Gewichtskategorien immer mehr an Bedeutung zu. - „Drei Gewichtskategorien halte ich für ausreichend. Die Wettkämpfer müssen lernen, fortgeschrittene Kampftechniken zu beherrschen und nicht nur ihren Gegner mittels unkontrollierter Technik zu vernichten. Jegliche Technik, welche dem Gegner den geringsten Schock verursacht, muss mit einem Minus-Punkt bestraft werden." ITF wird manchmal von den Anhängern der Vollkörperkontaktsportarten wegen seines kontaktlosen Kampfstils kritisiert (welcher leider häufig nur in den Regeln beschrieben ist). Manchmal ist es schwer, dem Weg zu folgen, auch wenn er direkt vor Ihnen liegt. Aber wenn Sie von einem Menschen, der viele Wettkämpfe gewonnen hat und der den ITF-Kampfstil propagiert, Worte des Verbotes bezüglich direkter Körperkontakte hören, kann Ihnen das die Augen ein wenig öffnen.
Im Jahre 2008 hatte ich endlich die Möglichkeit,
wieder an einem Seminar von Großmeister Pak teilzunehmen, und zwar gleich zweimal. Zum ersten Mal war das in der wunderschönen kanadischen Stadt Vancouver. Diesmal schon ausgestattet mit den Erfahrungen aus Budapest, schleppe ich zwei Garnituren Schützer mit und drei „Doboky“ (Trainingskleidung), damit es mir nicht mehr so wie letztes Mal ergeht, dass ich nach einem mehrstündigen Training in den verschwitzten Schützern aus Plastik einen Schlag setze und mir der Schützer von der Hand fliegt. Ich freue mich schon unglaublich auf den Drill bei Duellen und auf die Erklärungen forgeschrittener Kampfmethoden von der Legende der Taekwon-Do Duelle, und wieder zerstört Großmeister Pak meine Erwartungen komplett. Das ganze Seminar ist nur technischen Stellungen gewidmet und der Großmeister wählt mich ständig aus, Techniken zu demonstrieren. Also ist das Ergebnis das, dass ich zu einem Seminar kam, wo ich hoffte, dass ich im Sparring maximal zum Trainieren kommen würde, dann aber feststelle, dass ich schon lange nicht mehr so viele Stellungen geübt habe. Sollte Budapest und Vancouver für mich eine Lehre in der Disziplin sein, vorab nichts zu erwarten, so gelang das zu hundert Prozent. Nichtsdestotrotz war das Einüben von Stellungen für mich als Taekwon-Do Pionier und die Tatsache, dass ich in vielen Techniken von Großmeister Pak verbessert wurde, ein weiteres unglaubliches Erlebnis.
Das zweite Seminar spielte sich in Peking ab,
knapp vor den Olympischen Spielen. Ein teuflisch billiges Flugticket aus München, die Notwendigkeit, nicht nur einen Anzug und Schuhe zu kaufen, sowie die Sehnsucht, chinesische Denkmäler zu besuchen und die chinesische Kultur kennenzulernen, verbanden sich mit der Möglichkeit, an diesem Seminar teilzunehmen und ordentlich zu trainieren … und die Entscheidung abzureisen war geboren. Weil von unserer vier-köpfigen Gruppe allein ich schon zum dritten Mal in China war, erlebte ich auf der Chinesischen Mauer, in der verbotenen Stadt, beim Verschlingen von frittierten Käfern und Schlangen oder beim Handeln am Markt, wo mich meine Mitreisenden Tomáš Kuba, Michal Bor und Martin Svitek hinschleppten, so manches Deja-Vue. Sei ihnen dafür das Durchputzen ihrer Darmkulturen, etwas Unvermeidliches für Gelegenheitsabenteurer in asiatischen Ländern, eine adequate Revanche. Kein Deja-Vue hingegen stelte sich im Falle des Seminars mit Großmeister Pak ein. Dieses Mal hatte ich keine konkreten Erwartungen und die Gestaltung des Seminars teilte sich halb und halb in Teamaktivitäten und in Zweikämpfe. Schlicht genial und einfach! Noch vor dem Seminar aber hat mich der Großmeister wieder schockiert. Er griff selbst zum Telefon und rettete eine organisatorische Unfähigkeit der chinesischen Föderation. Das etwa zwanzig Mal wiederholte Diktieren meiner Telefonnummer beim Anruf eines Handys von der Rezeption unseres Hotels, das dann im lauten Ambiente eines chinesischen Restaurants Großmeister Pak übernahm, ist heute eine lustige Episode. Damals war ich mir aber schon nach der dritten Wiederhoung des Versuchs sicher, dass der Großmeister in jedem Augenblick den Hörer auflegen würde. Ich habe ihm eine so lang andauernde Geduld nicht zugetraut. Das Seminar verlief großartig. Mehrmals rief mich auch der Großmeister auf, etwas vorzuzeigen und ich habe mich maßlos amusiert, wie Martin Svitek und einige Chinesen dem Meister als Opfer bei der Demonstration von Techniken dienten, von denen manche mehr als furchtbar aussahen. Nichts davon aber war für mich neu. Ein für dieses Mal unikate Erlebnis waren die Ansprachen von Großmeister Pak, vor allem über seinen Lehrer, den Gründer von Taekwon-Do, General Čcho. Lange erzählte er zum Beispiel darüber, wie er bei der Schaffung des Vorgängers der Enzyklopädie viele Tage zubrachte und Tritte übte und der General beobachtete, konzipierte und beschrieb … so gelangten zum Beispiel Drehungen in die Lehre von Taekwon-Do.
„Ein guter Lehrer lehrt in der Jugend mit Taten und im Alter mit Worten."
Das war eine häufige Redewendung des Herrn General. Wenn wir diese Weisheit als Dogma betrachten, dann hat Pak Čong-su das Alter noch nicht erreicht, weil die Variante, dass er kein guter Lehrer sei, irgendwie nicht in Frage kommt – zumindest meiner laienhaften Meinung nach nicht.
Martin Zámečník 7.dan
Weitere Profile von Taekwon-Do Großmeistern
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